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13. Januar 2025

Gesetzliche Krankenversicherung – Vertragswesen

An
alle bundesunmittelbaren und landesunmittelbaren Krankenkassen
nachrichtlich
BMG, Aufsichtsbehörden der Länder, GKV-Spitzenverband

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist dem Bundesamt für Soziale Sicherung bekannt geworden, dass ein Abrechnungszentrum im Rahmen eines Dienstleistungsvertrags für verschiedene bundesunmittelbare Krankenkassen das Controlling der Arzneimittelausgaben für Arzneimittelgruppen mit hohem Missbrauchs- und Fehlversorgungspotenzial durchführt. Mit dem Controlling-Bericht wertet das Abrechnungszentrum jährlich die „relevanten“ Arzneimittelgruppen aus. Diese umfassen Arzneimittel mit hohem Kosten-, Miss- und Fehlgebrauchspotenzial. Zudem werden diese Auswertungen analysiert und durch die Arzneimittelexperten des Zentrums pharmakoökonomisch interpretiert sowie Handlungsempfehlungen zur Optimierung der Wirtschaftlichkeit und Versorgungsqualität gegeben. Ein Schwerpunkt liegt auf der Identifizierung von Verordnungsauffälligkeiten sowie Arzneimittel-missbrauch und Arzneimittelfehlversorgung.

Das Bundesamt für Soziale Sicherung bittet in diesem Zusammenhang um die Beachtung folgender Hinweise:

Zwar ist die Selektion von Ärzten nach sog. „Hochverordnern“, d. h. solchen Vertragsärzten, die im Vergleich zu anderen Vertragsärzten der gleichen Facharztgruppe Arzneimittel in einem für die Krankenkassen in erheblichem Kostenumfang verordnen, im Hinblick auf die Antragsstellung gemäß §§ 106 ff. SGB V bei der Prüfungsstelle zulässig. Die Prüfung oder Beratung ein-zelner Ärzte im Hinblick auf konkrete versichertenbezogene Verordnungen im Einzelfall ist hin-gegen unzulässig, da es für die Erhebung, Speicherung und Zusammenführung der dafür notwendigen versichertenbezogenen Sozialdaten und der Daten, welche der Arzt im Hinblick auf den einzelnen Behandlungsfall erhebt und speichert, an einer gesetzlichen Ermächtigungs-grundlage fehlt. Die Einflussnahme der Krankenkassen auf einzelne ärztliche Verordnungen ist unzulässig. Datenauswertungen sind nur dann als zulässig anzusehen, wenn und soweit sie darauf begrenzt sind, Fälle zur Beantragung von Einzelfallprüfungen gemäß § 106b SGB V nach Maßgabe der Prüfvereinbarungen zu ermitteln.

Dies betrifft insbesondere ein Modul des Dienstleistungsvertrags, welches die 100 Versicherten mit den höchsten Arzneimittelausgaben im zurückliegenden Abrechnungsjahr im Hinblick auf Diagnoseprüfung, Anwendungsprüfung, Prüfung auf Kontraindikationen, Dosierungsprüfung, Wechselwirkungscheck sowie wirtschaftliche Therapiealternativen auswertet. 

Laut Leistungsbeschreibung ist eine Maßnahme, die aufgrund der herausgefilterten Hochkos-tenfälle sowie im Rahmen weiterer Module ergriffen werden kann, die Arztinformation nach § 73 Abs. 8 SGB V. Diese Norm stellt jedoch keine Rechtsgrundlage für Auswertungen zur Analyse des Verordnungsverhaltens der Vertragsärzte dar.

§ 73 Abs. 8 SGB V zielt darauf ab, dass die verordnenden Vertragsärzte Zugriff auf die Informa-tionen haben, die Grundlage für eine wirtschaftliche Verordnungsentscheidung sind, wie z. B. Informationen über (neue) Rabattverträge, Preise, Bezugsquellen und ähnliches. Die Informationen dienen der Behebung der mangelnden Markttransparenz für die Vertragsärzte.

Aus § 73 Abs. 8 SGB V ergibt sich eine allgemeine Informationspflicht gegenüber den Vertragsärzten, was gegen eine gezielte Ansprache einzelner Ärzte spricht. Eine Rechtsgrundlage für eine Differenzierung nach solchen Vertragsärzten, die das entsprechende Arzneimittel bereits verordnet haben bzw. noch nicht verordnet haben, lässt sich der Rechtsvorschrift nicht entnehmen. Vielmehr sind die Informationen, wie sie in § 73 Abs. 8 SGB V geregelt sind, für alle Vertragsärzte aus dem jeweiligen Fachbereich für eine wirtschaftliche Verordnungsweise von Bedeutung.

Schließlich ist den Krankenkassen die Befugnis zur Beratung von Vertragsärzten über Fragen der Wirtschaftlichkeit im Zuge des GKV-FKG durch die Anpassung von § 305a Satz 1 SGB V entzogen worden. Beratungen durch die Krankenkassen oder durch von den Krankenkassen beauftragte Dritte sind nach gesetzgeberischem Willen ausnahmslos unzulässig (BT-Drs. 19/15662, S. 102).

Auch die Einschaltung des Medizinischen Dienstes aufgrund des § 275 Abs. 1 Nr. 1, 2. Alt. SGB V ist ohne Vorliegen eines Anfangsverdachts unzulässig.

Gemäß § 275 Abs. 1 Nr. 1, 2. Alt. SGB V sind die Krankenkassen in den gesetzlich bestimmten Fällen oder wenn es nach Art, Schwere, Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist, bei Auffälligkeiten zur Prüfung der ordnungsgemäßen Abrech-nung, verpflichtet, eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen.

Auffälligkeiten bestehen, „wenn die Abrechnung und/oder die vom [Leistungserbringer] zur ordnungsgemäßen Abrechnung vollständig mitgeteilten Behandlungsdaten und/oder weitere zulässig von der Krankenkasse verwertbare Informationen Fragen nach der – insbesondere sachlich-rechnerischen – Richtigkeit der Abrechnung und/oder nach der Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes aufwerfen, die die Krankenkassen aus sich heraus ohne weitere medizinische Sachverhaltsermittlung und -bewertung durch den MDK nicht beantworten kann“ (BSG 23.5.2017 – B 1 KR 24/16 R Rn. 36). Es genügt also jede Unklarheit in der Abrechnung (Becker/Kingreen, SGB V, § 275, Rn. 11).

Nach der Gesetzesbegründung wird das Verfahren ausdrücklich begrenzt auf Fälle, in denen die Krankenkassen einen Anfangsverdacht haben. Die Krankenkassen müssen in diesen Fällen die Möglichkeit haben, abgerechnete Leistungen vom Medizinischen Dienst überprüfen zu lassen. Dies gilt z. B. für Leistungen, die vor der Behandlung genehmigt wurden oder für die eine Kostenübernahmeerklärung abgegeben wurde, aber auch für Leistungen, die nicht genehmi-gungsbedürftig sind (BT-Drs. 14/7862, S. 6).

Im Grundsatz ist eine Übertragung der Aufgaben auf das Abrechnungszentrum demnach also möglich, sofern es sich um gesetzlich vorgeschriebene oder zugelassene Aufgaben der Kran-kenkasse nach § 30 SGB IV handelt. Da eine Auswertung der Versicherten mit den höchsten Arzneimittelausgaben zur Ermittlung von Arzneimittelmissbrauch oder Arzneimittelfehlversor-gung zur Einflussnahme der Krankenkassen auf einzelne ärztliche Verordnungen unzulässig ist, können diese Aufgaben auch nicht auf das Abrechnungszentrum übertragen werden. Lediglich die Identifizierung von Prüfpotenzialen für die Einzelfallprüfungen nach Maßgabe der Prüfver-einbarungen ist zulässig und kann ausgelagert werden.

Wir bitten Sie daher, Ihre Prozesse auf die gegebenen Hinweise hin zu überprüfen, ggf. unzulässige Auswertungen sowie Maßnahmen einzustellen und die diesbezüglichen Vereinbarungen mit dem Abrechnungszentrum zum nächstmöglichen Zeitpunkt entsprechend anzupassen.

Wir behalten uns die Prüfung der angepassten Prozesse zu einem späteren Zeitpunkt vor.

Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Antje Domscheit